Die Vorlesung setzt bewusst Texte in den Mittelpunkt, die für die französische Kultur- und Literaturgeschichte als richtungsweisend gelten können und darüber hinaus oft genug auch in den Kanon der europäischen Literatur eingegangen sind. Beginnend mit Chrétien de Troyes, dem bedeutendsten Vertreter des Höfischen Romans und Vorbild von Hartmann v. Aue, setzt sich die Vorlesung mit der petrarkistischen Liebeslyrik Pierre de Ronsards als wichtigstem Lyriker der sich selbstbewusst „Siebengestirn“ (Pléiade) nennenden Dichtergruppe des 16. Jahrhunderts fort. Das Drama des 17. Jahrhunderts repräsentiert Racine mit seiner Tragödie Phèdre; mit Madame de La Fayettes La Princesse de Clèves steht der Roman der Klassik bereits auf der Schwelle zu einer das 18. Jahrhundert prägenden Literatur der Innerlichkeit, die sich in der Komödie Marivaux‘ Bahn bricht und in dem fulminanten Briefroman von Choderlos de Laclos am Ende der Lumières ihren Abgesang findet. Schwellenwerk sind auch Charles Baudelaires Fleurs du mal, die als wichtigste Lyriksammlung des 19. Jahrhunderts noch wesentliche Kennzeichen der Romantik aufweisen, aber in einer radikalen Drehung des Verhältnisses von Sprache und Gegenstand bereits die Moderne vorbereiten, die im 20. Jahrhundert einen ihrer wichtigsten Dichter in Paul Éluard findet. Ähnliches geschieht im Roman: Wo der Père Goriot eines Honoré de Balzac alles daran setzt, beim Leser einen effet de réel zu erzielen, indem er ihn in den lebensweltlich bekannten Kosmos von Paris versetzt, zersetzt sich die „Welt im Text“ im Roman der Nouveaux Romanciers des 20. Jahrhunderts, wie etwa in Nathalie Sarrautes ebenfalls in Paris angesiedeltem Planétarium. Die Strahlkraft französischer Texte des 21. Jahrhunderts beweisen vor allem Yasmina Rezas internationales Erfolgsdrama Le Dieu du carnage, wie – mit Blick vor allem auf die Achsen von race und gender Marie NDiayes Erzählungen aus dem Band Trois femmes puissantes.

Natürlich lässt sich diese Auswahl nicht schlüssig begründen: warum Ronsard, aber nicht Rabelais und Montaigne? Warum Racine, aber nicht Molière oder D’Urfé? Warum nicht sodann Voltaire, Rousseau, Diderot und später Stendhal, Flaubert, Rimbaud oder Mallarmé? Éluard, aber nicht Apollinaire oder Desnos? Und wo bleibt Houellebecq? Die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen, klar ist jedenfalls, dass ein Anspruch auf Vollständigkeit zum Scheitern verurteilt ist. Die Auswahl deckt sich vielmehr mit den Werken des Staatsexamenskanons und die Vorlesung möchte anhand der genauen Lektüre zentraler Texte - und darin wieder zentraler "Schlüsselstellen" – Strukturen einander sich ablösender Denk- und Wissenssysteme in drei Gattungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert skizzieren. Damit richtet sie sich gezielt an Studierende, die sich - auch im Hinblick auf bevorstehende Examina - Inseln im Meer der Kanontexte erarbeiten wollen. Daher sei ausdrücklich auch auf die sich zeitlich an die Vorlesung anschließende Lektüreübung verwiesen, in der neben der in der jeweiligen Vorlesungssitzung behandelten Textstelle weitere Passagen desselben Gesamttextes zur gemeinsamen Erarbeitung ausgegeben werden, um damit auch die Techniken der Textanalyse zu stärken.

Folgende Autor:innen bzw. Texte werden voraussichtlich Gegenstand der Vorlesung sein:

Chrétien de Troyes, Erec et Enide; Ronsard, Sonnets pour Helene; Racine, Phèdre; Madame de La Fayette, La Princesse de Clèves; Marivaux, La Double inconstance; Laclos, Les Liaisons dangereuses; Baudelaire, Les Fleurs du Mal; Balzac, Le Père Goriot; Éluard, Capitale de la douleur, Sarraute, Le Planétarium; Reza, Le Dieu du carnage, NDiaye, Trois femmes puissantes.