11. September, rue Toullier

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Sain-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôspital militaire. Da brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.“

 

Mit diesen Zeilen beginnt der einzige Roman des Lyrikers Rainer Maria Rilke, entstanden in den Jahren nach seinem Parisaufenthalt 1902–1903. Der Titelheld Malte Laurids Brigge, Sohn einer aussterbenden dänischen Adelsfamilie, schiebt die Eindrücke aus der modernen, von Armut geprägten Metropole Paris und die Erinnerungen aus seiner feudal geprägten Kindheit in- und übereinander. Als Roman bezeichnete Rilke dieses fiktive Tagebuch zwar nie selbst, und doch gelten Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als bahnbrechend für die Entwicklung dieser Gattung im frühen 20. Jahrhundert: Rilke bricht mit dem Realismus des 19. Jahrhunderts und pflegt Beziehungen zur internationalen Avantgarde, etwa zur Lyrik Baudelaires. Die Fragmentierung der kausal kaum nachvollziehbaren Lebensgeschichte, die Unsicherheit der Erzählerfigur, die Unmöglichkeit, seine 71 Aufzeichnungen zu systematisieren – dies alles ist Programm. Der Text bietet sich als Grundlage an für eine Diskussion über Konzeptionen der Moderne, über radikale Subjektivität und Historizität, über Krise und Krisenwahrnehmung, Großstadt und Armut. Wir werden die gemeinsame Lektüre durch Rückgriff auf unterschiedliche Herangehensweisen aus der Rezeptionsgeschichte ergänzen, die wahlweise das Historische, Politische, Soziologische oder Poetische in den Vordergrund stellen.

 

Bitte besorgen Sie sich folgende Ausgabe:

Rainer Maria Rilke: Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Hrsg. u. komm. v. Manfred Engel. Reclam, Stuttgart 1997. (EUR 6,60)