Theorien der Sprache, Theorien der Übersetzung

Was ist Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft? Ausgemacht ist allenfalls, dass dieses Fach wie kaum ein anderes die Pluralität der Sprachen zur Voraussetzung hat. Das Allgemeine daran, so lautet die seit Peter Szondi geläufige Lesart, steht für Frage nach einer allgemeinen Theorie der Sprache, die auch bei der Auseinandersetzung mit dem partikularen Text zur Debatte stehen kann. Mit dem ‚Vergleichenden‘ ist es schwieriger, würde doch ein Vergleich voraussetzen, dass es ausgemacht ist, worin etwa ‚das Französische‘ und ‚das Deutsche‘ jeweils besteht. Ein Vorschlag lautet deshalb, das ‚V‘ in der Abkürzung ‚AVL‘ nicht als ‚Vergleich‘ sondern als ‚Vielfalt‘ oder als ‚Verschiedenheit‘ zu denken.

Die Verschiedenheit der Sprachen wird bis hin zu ihrer grundsätzlichen Inkommensurabilität bereits bei Schleiermacher (1813) und Humboldt (1836) betont. Als Ziel der Übersetzung begreifen sie gerade nicht den Anspruch, die Brüche zwischen den Sprachen zu überwinden. Vielmehr vertreten sie das Ideal, die Differenzen wahrzunehmen und hervorzuheben. Mit diesem Gedanken geht die Tendenz einher, auch die eigene Sprache als etwas Fremdes zu begreifen, über welches das Individuum keineswegs souverän verfügt.

Im Verlauf des Semesters werden wir uns unter anderem mit der Frage beschäftigen, inwiefern historische Krisen eine Radikalisierung der sprachphilosophischen Tradition bewirken. Als auffällig erweist sich die durchgehende, wenn auch jeweils höchst verschieden konnotierte Rede von einer ‚Gewalt der Sprache‘, die zunehmend politisiert wird. Das gemeinsame close reading mit Fokus auf Rhetorik und Darstellungsverfahren wird dazu beitragen, ein Gespür für die Historizität der einzelnen theoretischen Positionen zu entwickeln. Anhand von essayistischen und philosophischen Texten von unter anderem Luther, Schleiermacher, Humboldt, Hölderlin, Benjamin, Szondi, Derrida, Spivak und Cixous werden wir uns sowohl mit Vorstellungen von Pluralität als auch mit der Sehnsucht nach der Einheit aller Sprachen befassen. Das stark theoriebetonte Programm wird durch einzelne Sitzungen variiert, die der Lektüre von Lyrikübersetzungen gewidmet sind.