Jenseits des Lustprinzips geht von der Krise aus und nimmt ihre Verlängerung in Kauf. Nach dem Ersten Weltkrieg – Europa liegt in Trümmern, die Habsburger Monarchie ist auseinandergefallen und die psychoanalytische Bewegung wird von Krisen durchrüttelt – kehrt Freud nach über zwei Jahrzehnten zur Frage des Schocks und der Erschütterung zurück. Bereits in den Studien zur Hysterie (1895) hatte ihn das Problem des psychischen Traumas beschäftigt. In der Zwischenzeit, seit der Traumdeutung (1900), war diese Problematik zugunsten einer Theorie innerer Konflikte und unbewusster sexueller Wünsche in den Hintergrund gerückt, aber nie ganz verschwunden. In Jenseits des Lustprinzipsgeht es nicht um unbewusste sexuelle Wünsche, es geht nicht um Ödipus, Kastrationsangst oder Penisneid, sondern um die Wiederkehr des Traumas. Dabei stellt Freud die Frage nach dem Stellenwert traumatischer Einbrüche für die Entstehung und Entwicklung psychischer Funktionen – mehr noch: für die Entstehung und Entwicklung des Lebens überhaupt. Könnte es sein, dass es etwas gibt, das „ursprünglicher, elementarer, triebhafter“ ist als das Bestreben, Unlust zu vermeiden? Könnte es sein, dass wir über regressive Tendenzen nachdenken müssen, um überhaupt zu verstehen, was sich auf verschobene Weise im sogenannten Fortschritt und im sogenannten Selbsterhaltungstrieb äußert?

In mehrerlei Hinsicht dreht sich Freuds Jenseits des Lustprinzips (1920) um die letzten Fragen: Es geht um psychoanalytische Fälle jenseits der Therapierbarkeit, um die Grenzen der Wissenschaften und des Wissbaren sowie um das Verhältnis von Organischem und Anorganischem, Leben und Tod. Für die klinische Psychoanalyse gehört Jenseits des Lustprinzips zu den umstrittensten Texten überhaupt. Für die Literatur- und Kulturtheorie sowie für die kritische Theorie handelt es sich um einen Schlüsseltext. Die hier entwickelten Konzepte – vor allem Lebenstriebe, Todestriebe und Wiederholungszwang – bieten theoretische Erklärungsmodelle für destruktive und selbstzerstörerische Dynamiken sowie für die zwanghafte Wiederholung traumatischer Erfahrungen. Weit über die Individualpsychologie hinaus sind dies zentrale Themen in Literatur, Ästhetik und Geschichtsdenken. Peter Brooks argumentierte in Reading for the Plot (1984), dass Freuds Jenseits des Lustprinzips eine zentrale Grundlage für das Verständnis narrativer Strukturen bietet: Brooks bezieht den Wiederholungszwang und den Konflikt zwischen Lebens- und Todestrieben auf die Dynamik von Erzählungen, insbesondere auf das Streben nach einem Abschluss, der zugleich ersehnt und hinausgezögert wird. In den literary trauma studies dient das Konzept des Wiederholungszwangs wiederum als Erklärung dafür, warum Traumata in Erzählungen nicht linear repräsentiert, sondern sich in die narrative Struktur niederschlagen, etwa durch Fragmentierungen, Auslassungen und Verzögerungen. Auch darüber hinaus haben die Jenseits-Lektüren etwa von Walter Benjamin, Jacques Lacan, Melanie Klein, Jacques Derrida, Slavoj Zizek, Alenka Zupancic und Teresa de Lauretis wesentliche Impulse gesetzt.

Die ersten Seminarsitzungen sind dem close reading des so schwierigen wie einflussreichen Primärtextes gewidmet. Zu den Herausforderungen gehört, dass Freud einem Bündel von Fragen nachgeht, aber keine in sich geschlossene, kohärente Antwort liefert. Er setzt immer wieder neu an, unterbricht sich und entwickelt verschiedene Erklärungsmodelle, die einander zum Teil gegenseitig ausschließen. Er weiß darum und konstatiert: „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. / Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken.“

Im Verlauf des Semesters werden wir unter anderem die Rolle der Biologie in Jenseits des Lustprinzips diskutieren. Gerade jener Literatur- und Kulturwissenschaft, die mit Freud – zurecht! – vor allem das Konzept des Menschen als sprachliches Wesen verbindet, sind seine biologischen Ausschweifungen ein Ärgernis. Lacans Rückkehr zu Freud wird meist als Aufruf dazu verstanden, Freuds Theorie noch freudianischer zu lesen, als Freud es selbst tat, und zwar, indem man sie um biologische Komponenten bereinigt. So heißt es immer wieder, die biologische Spekulation komme bei Freud nur deshalb ins Spiel, weil er leider noch nicht über Lacans Begriff des Signifikanten verfüge. Wie jedoch Derrida betont hat, lässt sich Freuds Bezug auf die Biologie keineswegs einfach durch Symbolizität oder Diskursivität ersetzen. Vielmehr müsse der Gedanke möglich sein, dass wir qua transgenerationaler Übertragung nicht nur dem symbolischen Archiv gegenüber empfänglich sind, sondern auf strukturanaloge Weise auch dem biologischen Archiv. Die Körper wären demnach Träger auch biologischer Vergangenheiten, die sich nie restlos rekonstruieren lassen.

Zugleich gilt: Es gibt keine ideologisch neutrale Rede über die Natur. Wenn Freud nach der Unsterblichkeit von Keimzellen fragt und über Pantoffeltierchen, Zugvögel, Seeigeleier und den ersten Einzeller spekuliert, zieht er sich nur scheinbar von den Belangen der Sprache, der Geschichte und der Gesellschaft zurück. Die biologische Spekulation bei Freud ist nicht zuletzt für die Frage aufschlussreich, wie über das organische Leben erzählt werden kann. Freud erzählt auf eine Weise, die mit den degenerationstheoretischen und antisemitischen Tendenzen inkompatibel ist, die zur Entstehungszeit des Textes immer geläufiger und auch etwa bei C. G. Jung (1934) explizit formuliert wurden. 

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Das Seminar findet nach einem Planungs- und Vorstellungstreffen zu Semesterbeginn in unregelmäßigen Abständen in vierstündigen Blöcken statt. Für die weiteren Schwerpunkte können Sie sich gerne mit Ihren Wünschen melden: jenny.willner@lmu.de

Einige Möglichkeiten wären:

– Die Rezeption im Rahmen der literary trauma studies (Caruth, Felman, Baer u. a.)

– Die Rezeption durch Derrida – bis hin zu den biodekonstruktivistischen Ansätzen über organisches Leben und Tod im Anschluss an Derridas La vie la mort, etwa wie von Francesco Vitale untersucht.

– Verschiedene Traditionen kulturtheoretischer und politischer Lektüren von Jenseits des Lustprinzips

– Die Rolle der späten Triebkonzeption Freuds im Vorfeld der britischen Schule der Psychoanalyse, etwa bei Sándor Ferenczi (Schüler Freuds, erster Analytiker von Melanie Klein)

– Spezielle Themen, wie etwa die Frage nach der Möglichkeit, die Opern Wagners mit Freuds Begriff des Todestriebs zu rezipieren (siehe hierzu: Slavoj Zizek, Mladen Dolar u. a.)