I. Zum Seminarthema
„You are so paranoid, you probably think this essay is about you." In einem einflussreichen Essay mit diesem Untertitel attestierte Eve Kosofsky Sedgwick für die poststrukturalistische und postmoderne Theorie und Kritik einen „paranoiden Imperativ": „[I]n the hands of thinkers after Freud, paranoia has by now candidly become less a diagnosis than a prescription. In a world where no one need be delusional to find evidence of systemic oppression, to theorize out of anything but a paranoid critical stance has come to seem naïve, pious, or complaisant.” („Paranoid Reading and Reparative Reading", S. 125 f.)
Das geistes- und kulturwissenschaftliche Interesse am Paranoia-Begriff beschränkt sich jedoch nicht auf die vielfach beschriebene inhärente Affinität hermeneutischer Verfahren und bestimmten Formen der Theoriebildung zu paranoiden Welterschließungsverfahren: Die Literaturwissenschaft hat insbesondere für die nordamerikanische Literatur nach dem 2. Weltkrieg die Ausbildung einer ‚paranoiden Schule’ beobachtet (z.B. bei Thomas Pynchon, Don DeLillo und Philip K. Dick) und der Paranoia-Begriff wurde immer wieder auch dazu bemüht, gesellschaftskritische Diagnosen einer für das späte 20. und 21. Jahrhundert spezifischen „paranoiden“ conditio humana zu stellen. Teresa Brennan behauptete 1991, dass wir uns kollektiv geradezu in einem „Zeitalter der Paranoia" befänden („The Age of Paranoia"), Studien wie Patrick O’Donnells Latent Destinies (2000) und Timothy Melleys Empire of Conspiracy (2016) beschreiben insbesondere für den US-amerikanischen Kontext eine Proliferation von "kultureller Paranoia" (O’Donnell) bzw. die Entstehung einer umfassenden „Kultur der Paranoia“ (Melley), und ein Buchtitel von Daniel und Jason Freeman aus dem Jahr 2008 nennt die Paranoia gar „the 21st century fear".
Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass gerade der psychopathologische Begriff der Paranoia, den Hippokrates im 5. Jahrhundert vor Christus prägte, um eine Art von deliriösem ‚verkehrtem’, ‚verzerrtem’ oder ‚widersinnigem’ Denken zu bezeichnen (von griech. „para" = „gegen" oder „neben" + „nous" = „Verstand“), im 20. und 21. Jahrhundert in geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen eine so außerordentliche Konjunktur erfuhr, denn im alltäglichen Kontext begegnen wir dem Phänomen der Paranoia heutzutage in erster Linie in Verbindung mit den zahlreichen, weithin bekannten und von der Popkultur oft verlachten, oft perpetuierten Verschwörungstheorien (9/11 als „Inside Job", Chemtrails, die geheime Weltherrschaft der Illuminati), welche gerade in den letzten 20 Jahren mehr denn je zuvor zu florieren scheinen.
Dem alltagssprachlichen Verständnis des Begriffs gemäß ist eine „paranoide" Haltung zur Welt von krankhaftem Misstrauen, unrealistischen Verfolgungsängsten und Größenwahn gekennzeichnet; wer „paranoid" ist, sucht zwanghaft überall nach Hinweisen auf versteckte Bedrohungen, abgründige Verbindungen und großangelegte Verschwörungen der ‚Anderen’ gegen einen selbst.
Was haben Verschwörungstheoretiker, pathologische Paranoiker*innen, paranoide Gesellschaften der Postmoderne und poststrukturalistische Denker*innen gemeinsam?
Was die Paranoia sowohl als Metapher für eine kollektive epistemologische Praxis in kapitalistischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts im Allgemeinen als auch für moderne und postmoderne Formen der Interpretation, Theoriebildung und Wissensproduktion im Besonderen so fruchtbar macht, ist ihre Beschreibbarkeit als eine Form der hermeneutischen Aktivität oder Lektüre: Der ewig suchende, detektivische Blick der Paranoia liest die Welt als einen Raum voller Zeichen, in dem alles bedeutungsvoll ist und in dem es gilt, die sichtbare Oberfläche der Dinge interpretierend zu durchdringen, um zu einer verborgenen Tiefenstruktur zu gelangen. Die paranoide Tendenz, „nichts Indifferentes [anzuerkennen]" und noch „die kleinsten Anzeichen [zu verwerten]" (Freud: „Über einige neurotische Mechanismen"), welche Freud als „Beziehungswahn" bezeichnete, lässt sich auch als eine Art ‚Bedeutungswahn’ beschreiben: Die paranoide Aktivität negiert jede Form von Kontingenz und duldet kein Chaos; heterogene Details und Ereignisse werden in ein übergeordnetes, sinnstiftendes Narrativ eingeordnet. Die Paranoia vollzieht nicht nur eine ständige obsessive Lektüre der Welt, sie hat auch ein kreatives Element und überschreibt die manifeste Oberfläche der Welt mit ihrer eigenen ‚Geschichte’ - wenn sie eine Form von Wahnsinn ist, dann ist sie ein Wahnsinn, der sozusagen Methode hat und sich sein eigenes, in sich stimmiges „kunstvolle[s] Wahngebäude" oder „Wahnsystem" (Freud über Schreber) aufbaut.
II) Zum Aufbau des Seminars
Ziel des Seminars soll es sein, die vielfältigen Implikationen des Paranoia-Begriffs als epistemologisches, hermeneutisches und poetisches Paradigma im 20. und 21. Jahrhundert zu beleuchten. Dabei wollen wir uns dem Phänomen der Paranoia aus drei Richtungen nähern:
1) Paranoia als Pathologie in Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie
In einem ersten Schritt soll zunächst die medizinische, psychiatrische, psychologische und psychoanalytische Begriffsgeschichte der Paranoia rekonstruiert und die wichtigsten Charakteristiken und Mechanismen des paranoiden Denkens wie Projektion, Fixierung bzw. Rigidität der Gedanken, Hypervigilanz, Verfolgungsgedanken, Größenwahn, obsessive Ich-Bezogenheit etc. in den Blick genommen werden. Außerdem soll die Paranoia in Abgrenzung zu anderen Formen der Angstaffekte – der Furcht und der unbestimmten ‚Angst’ im engeren Sinne – definiert werden.
Dabei sollen neben Auszügen aus den beiden ‚klassischen’ Texten zum wohl bekanntesten und meistdiskutierten Individualfall der Paranoiaforschung, Daniel Paul Schrebers (1842-1911) Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) und Freuds Analyse derselben („Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)" [(1910/1911)], auch Ansätze von Emil Kraepelin, Jacques Lacan, Melanie Klein („Notes on some schizoid mechanisms") und David Shapiro (Neurotic Styles) besprochen werden.
2) Paranoide Epistemologien: „Kulturen der Paranoia“ im 20. und 21. Jahrhundert und die paranoide Postmoderne
Der zweite Themenblock beschäftigt sich mit dem Import des Paranoiabegriffs in die Geistes- und Kulturwissenschaften und seiner De-Pathologisierung und metaphorischen Übertragung vom Bereich der Individualpsychopathologie auf politische, epistemologische, kulturelle und poetische Zusammenhänge. Unter anderem soll Richard Hofstadters 1964 im Harper’s Magazine erschienener, vielzitierter Aufsatz "The Paranoid Style in American Politics" herangezogen werden, dessen metaphorische Aneignung des Paranoia-Begriffs richtungsweisend für zahllose auf ihn folgende Studien zu den ‚Kulturen der Paranoia’ war, und in welchem Hofstadter für den nordamerikanischen Kulturraum das Vorherrschen einer Art politischer Rhetorik beschrieb, die von „heated exaggeration, suspiciousness, and conspirational fantasy" - eben jenem titelgebenden ‚paranoid style’ - geprägt sei (S. 77).
Während Hofstadter den Paranoia-Begriff in einer unverkennbar wertenden Weise anwendete, um Kritik an bestimmten politischen Positionen zu üben (dass die von Hofstadter präsentierten Charakteristika unlängst auch zur Identifikation eines „paranoiden Stils" bei Donald Trump herangezogen wurden, ist wenig überraschend), verwenden ihn neuere Arbeiten wie Patrick O’Donnells Latent Destinies (2000) in einem breiteren Sinne zur Diagnose eines spezifisch postmodernen epistemologischen Modus: Laut O’Donnell bildet sich als ‚Symptom’ der Postmoderne – im Lyotard’schen Sinne verstanden als Zeitalter, in dem eine beruhigende und absichernde Sinnstiftung durch jegliche Formen von grand récits unmöglich geworden ist – ein kollektiver paranoider Welterschließungsmechanismus aus, der Unsicherheiten und Ängste kompensiert, indem er Chaos und Kontingenz in Ordnung und Bestimmtheit umdeutet – ein Ansatz, der stark an Freuds Hinweis in Totem und Tabu erinnert, dass die „Systembildung" aufgrund „einer intellektuelle[n] Funktion in uns", die „Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen sie sich bemächtigt [fordert]", absolut beherrschend für das paranoische ‚Wahnsystem’ sei.
3) Narrative Poetiken der Paranoia
Im Anschluss an die theoretische Annäherung an den Paranoia-Begriff soll sich der größte Teil der Seminarsitzungen der gemeinsamen Lektüre ausgewählter literarischer Texte widmen, die auf jeweils unterschiedliche Weise Paranoia nicht nur auf ihrer Handlungsebene thematisieren – etwa in Form von Verschwörungs- oder Detektiv- und Kriminalnarrativen –, sondern mithilfe bestimmter narrativer Verfahren auch strukturell eine Art "paranoide" Poetik entfalten: Thomas Pynchons The Crying of Lot 49, Don DeLillos Libra und Paul Austers City of Glass.
Abschließend soll anhand von The Parallax View (1974), dem zweiten Film in Alan J. Pakulas „Paranoia-Trilogie", diskutiert werden, wie das Medium des Films den paranoiden Blick auf die Welt audiovisuell in Szene zu setzen vermag.
Zur Einführung empfohlen:
Boltanski, Luc: „Die endlose Untersuchung der ‘Paranoiker’". In: Ders.: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015. S. 307-398.
Brennan, Teresa: „The Age of Paranoia.” In: Paragraph 14.1 (1991): S. 20-45.
Ebner, Timm et al. (Hrsg.): Paranoia. Lektüren und Ausschreitungen des Verdachts. Wien: Turia + Kant, 2016.
Krause, Marcus et al. (Hrsg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. München: Fink, 2011.
O’Donnell, Patrick: Latent Destinies. Cultural Paranoia and Contemporary U.S. Narrative. Durham u. London: Duke University Press, 2000.
Vorläufige Lektüreliste
Flieger, Jerry Aline: „Postmodern Perspective: The Paranoid Eye." In: New Literary History 28.1 (1997): S. 87-109.
Freud, Sigmund: „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“ [1910/1911]. In: Studienausgabe Bd. VII: Zwang, Paranoia, Perversion. Frankfurt a. M.: Fischer, 1973. S. 133-203.
Freud, Sigmund: „Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität.“ [1921/1922] In: Studienausgabe Bd. VII: Zwang, Paranoia, Perversion. Frankfurt a. M.: Fischer, 1973. S. 217-228.
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. (Auszüge)
Klein, Melanie: „Notes on some Schizoid Mechanisms“ [1946]. In: Dies.: Envy and Gratitude and Other Works 1946-1963. London: Vintage, 1997. S. 1-24.
Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia. Wien: Passagen, 2002.
Shapiro, David: „Paranoid Style“. In: Ders.: Neurotic Styles. New York/London: Basic Books, 1965. S. 54-107.
Hofstadter, Richard: „The Paranoid Style in American Politics”. In: Harper’s Magazine, November 1964: S. 77-86.
Ricouer, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.
Sedgwick, Eve Kosofsky: „Paranoid Reading and Reparative Reading, or: You’re so paranoid, you probably think this essay is about you”. In: Michèle Aina et al. (Hrsg.): Touching Feeling. Durham: Duke University Press, 2002. S.123-151.
Literarische Texte:
Auster, Paul: City of Glass [1985].
DeLillo, Don: Libra [1988].
Pynchon, Thomas: The Crying of Lot 49. [1965].

- Trainer/in: Carina Breidenbach