Boring Stories”: Narrativität, Anti-Narrativität" und historische Konjunkturen und Krisen des narrativen Paradigmas

“There is nothing more powerful than a good story” heißt es in Peter Brooks Seduced by Story (2022). Was macht eine “gute Geschichte” aus und was macht andere “Geschichten” weniger gut? Eine der am häufigsten vernehmbaren Begründungen für das Nichtgefallen von Romanen und Erzählungen lautet, dass diese “langweilig” seien, oder dass sie einen nicht “gepackt” hätten. Lässt sich verallgemeinernd behaupten, dass “gute Geschichten” “packend” oder “spannend” und weniger gute “langweilig” sind?  Und was genau lässt literarische Erzähltexte oder andere Arten von “Geschichten” überhaupt als “langweilig” erscheinen? Ist eine solche Bewertung subjektiv oder auch zeit- und kulturspezifisch? Oder haben vielfach als ‘langweilig’ beschriebene Texte bestimmte Strukturmerkmale gemeinsam bzw. fehlen Ihnen bestimmte Merkmale von ‘Narrativität’?

Was “packt” uns umgekehrt an einer “guten Geschichte” häufig so sehr bzw. wie affiziert sie uns, dass sich ihre Wirkung wie bei Brooks als ambivalentes ‘Verführungspotenzial’ beschreiben lässt, welches sich im Kontext der von ihm beklagten gegenwärtigen "storification of reality” auch in außerliterarischen Kontexten (z.B. in der Politik, in den sozialen Medien oder in der Werbung) “Geschichtenerzählerinnen” und “Geschichtenerzähler” aller Art zu teils fragwürdigen Zwecken zu Nutze machen? 

Etwa 40 Jahre nach dem “narrative turn” in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist der Gebrauch des Begriffs “Narrativ” in den verschiedensten außerliterarischen Diskursen beinahe inflationär geworden –  fast alles scheint aktuell als “Geschichte”/”story” beschreibbar bzw. erzählbar zu sein, oder eine “Geschichte” zu haben, sodass der Begriff der “Erzählung” in seiner Bedeutung zunehmend verwaschen erscheint. Was macht “Narrativität” aus, bzw. welche textuellen Strukturen machen literarische Texte zu “Erzählungen”, und inwiefern lassen sich entsprechende Strukturmerkmale überhaupt auch für nicht textuell/nicht sprachlich verfasste Phänomene beschreiben? Was ist gemeint, wenn Denker wie Han Byung Chul in einer kritischen Tendenz davon sprechen, dass wir in einem “postnarrativen Zeitalter” angekommen sind (in: Die Krise der Narration [2023]? 

Das Seminar wird sich Fragen der Erzählbarkeit zunächst aus verschiedenen theoretischen Richtungen und in historischer Perspektive nähern und Konzepte wie “Narrativität”, “Anti-Narrativität”, “Narrativismus”, “plot” vs “story” etc. in den Blick nehmen (u.a. Auszüge aus Gerald Prince: Narratology, J.F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, Hayden White: Metafiction, Galen Strawson: “Against Narrativity”, Brian McHale: “Weak Narrativity”). In einem zweiten Schritt wollen wir anhand  einer Reihe von exemplarischen Lektüren (u.a. Tschechow: “Eine langweilige Geschichte” [1889], Samuel Beckett: Molloy [1951],  Ottessa Moshfegh: Death in her Hands [2020]) die Frage beleuchten, wie sich verschiedene Grade von  “weak narrativity” oder “anti-narrativity” in literarischen Texten manifestieren, die sich den konventionellen Anforderungen an eine “gute Geschichte” zu widersetzen scheinen und die daher von vielen Leserinnen und Lesern als “boring stories” beschrieben werden, in denen “nichts passiert”.