Armut gilt seit dem Beginn schriftlicher Überlieferung als eines der größten Menschheitsübel und ist dennoch fünftausend Jahre später noch nicht ausgerottet. Noch immer zwingt materieller Mangel Millionen von Menschen dazu, ihre Freiheit und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen oder aufzuopfern. Dementsprechend hart werden die aus Armut resultierenden Konflikte geführt: um die Verteilung knapper Ressourcen, aber auch um die Verantwortung für die Not und Hilfe für die Notleidenden. Es geht dabei nicht nur um Fragen von Macht und Moral, sondern auch um Definitionen und Weltanschauungen: Woran bemisst sich, ob jemand arm ist? Wann sind seine Mitmenschen zur Hilfe verpflichtet? Und macht Reichtum wirklich glücklich?
Bereits in der griechisch-römischen Antike wurden diese Fragen diskutiert, weil Armut und die daraus folgenden Konflikte alltägliche Realität waren. So vertraut das Problem scheint, so abweichend waren die Antworten, die in der politischen Praxis und gelehrten Theorie gefunden wurden. Die Auseinandersetzung mit den Realitäten und Diskursen von Armut befördert deshalb gleichermaßen ein allgemeines Verständnis der Grundprobleme sozialer Macht und Gerechtigkeit wie auch der historischen Besonderheiten der antiken Gesellschaft.
Im Kurs werden wir in einem diachronen Längsschnitt von den Stadtstaaten des archaischen Griechenlands bis zum römischen Weltreich der Spätantike gehen und danach fragen, wie materieller Mangel mit Landwirtschaft, Geldschulden, politischer Mitbestimmung, imperialer Herrschaft und religiösen Überzeugungen zusammenhängt. Der Kurs verknüpft dabei eine Einführung in die antike Gesellschaftsgeschichte mit einer Einführung in die Methode der kritischen Lektüre einschlägiger Quellentexte. Lyrik, Bühnendramen, Gerichtsreden, Geschichtswerke und theologische Traktate: Wie können literarische Gattungen, die von und für eine kleine Oberschicht geschrieben wurden, trotzdem Auskunft über die Lebensrealität der breiten Bevölkerung geben, die ihr täglich Brot hart erarbeiten mussten und kaum Selbstzeugnisse hinterließ?

- Docente: Moritz Hinsch