Vormoderne Gesellschaften waren Gesellschaften der Kommunikation unter Anwesenden. Das gilt auch für die griechisch-römische Welt der Antike. Vertrauen wurde durch persönliche Interaktion geschaffen, die Gültigkeit von kollektiven Entscheidungen und Regeln durch Rituale und Zeremonien bekräftigt. Mit der Entstehung von Handelsnetzwerken und Großreichen dehnten sich die Kommunikationsnetze zugleich immer weiter über den Gesichtskreis einzelner Personen aus. Nicht nur die Herrschenden, sondern auch ein wachsender Teil der übrigen Bevölkerung – Händler, Geldverleiher, Gelehrte, Beamte – griffen daher zunehmend auf Briefe zurück, um ihren Befehlen, Wünschen oder Gedanken über Distanz hinweg Geltung zu verschaffen. Sie entwickelten dabei zunehmend eine eigene Ästhetik der schriftlichen Kommunikation über Distanz, die ihren Ausdruck in literarischen Briefsammlung oder als Inschriften monumentalisierten Briefen fand. Briefe wurden zu einem Medium der Macht. Zugleich waren die Verfasser und Empfänger von Briefen allerdings auch mit den Nachteilen des Mediums konfrontiert: Die Übermittlung von Briefen war langsam und unsicher; die Glaubwürdigkeit eines Briefes anfechtbar, die Wirkung beim Empfänger schlecht kontrollierbar. Briefe waren daher ein prekäres Machtmedium und ihre Ausgestaltung spiegelt häufig die durch Abwesenheit bedingte Ohnmacht ihrer Verfasser.
Im Kurs werden wir uns anhand exemplarischer Fallstudien mit den Potentialen und Grenzen des Mediums Brief von der Archaik bis zur Spätantike beschäftigten. Wir werden Händler, Sklaven, Senatoren, Statthalter, Könige, Kaiser und Bischöfe kennenlernen, die Briefe benutzten, um trotz Abwesenheit ihre Interessen durchzusetzen. Die Übung ist damit auch eine methodische Einführung in ein Quellengenre, das wie kaum ein anderes erlaubt, die Spannung zwischen Ereignis und Struktur sowie Individuum und Gesellschaft im Wandel der Zeit zu beleuchten.

- Profesor: Moritz Hinsch