Mit dem Thema Vergebung ist im Grunde das Zentrum des christlichen Glaubens adressiert, denn die Rechtfertigung des Gottlosen impliziert die Vergebung und somit Befreiung von Schuld. Nicht zuletzt mag diese prominente Verortung des Themas zu einigen Einseitigkeiten geführt haben.
So dachte und denkt christliche Theologie einerseits Vergebung vornehmlich Täter-orientiert, denn vor Gott ist der Mensch immer zuerst schuldig. Andererseits werden die Opfer zwischenmenschlicher Vergehen kaum, bisweilen gar nicht in theologischen Erwägungen berücksichtigt. Letzteres führt zu gravierenden Problemstellungen, wie anhand des Gottesdienstes deutlich wird: Wenn in der Absolution die Schuld der Gemeinde von Gott erlassen wird, so stellt sich die Frage, ob dann die Vergebung der Opfer bereits hinfällig ist. In einer opfersensiblen Perspektive, die man durchaus auch Gott unterstellen dürfte, kann dies kaum angebracht sein. Dann aber stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung zu denken sei. Ist die göttliche Vergebung erst gültig, wenn auch die Opfer vergeben haben?
Darüber hinaus muss man sich bewusst sein, dass Vergebung längst nicht mehr ein genuines Thema der Theologie ist. Philosophie, Politikwissenschaften, Soziologie sowie Psychologie haben zu diesem oder verwandten Themen eigene Forschungszweige aufgestellt, die von theologischer Seite nicht länger ignoriert werden können. Bspw. hat die psychologische Verhaltenstherapie in den USA bemerkenswerte Untersuchungen zur Arbeit am Vergebungsprozess geliefert. In diesem Kontext stellen sich bemerkenswerte Fragen: Ist Vergebung an die Reue des Opfers gebunden oder kann das Opfer unabhängig von der Reaktion des Täters vergeben? Ist ein Opfer zur Vergebung verpflichtet? Was folgt daraus, wenn das Opfer nicht vergeben will oder kann?
In der anstehenden Übung wollen wir das Thema Vergebung interdisziplinär betrachten. Dieses Gespräch sollte die unterschiedlichen Perspektiven gewinnbringend zusammenführen, sodass die aufgeworfenen Fragen adäquat adressiert sein dürften. Die Übung steht für alle Semester offen, fordert aber eine gewisse Freude am Lesen und systematischen Denken.
- Викладач: Anselm Reiner
- Викладач: Meier Friedhelm