Unter Moralistik versteht man eine Tradition philosophischer Schriften vor allem der frühneuzeitlichen Romania, die sich der erfahrungsorientierten und desillusionierenden Erkundung und Beschreibung der menschlichen Sitten und Verhaltensweisen, der mœurs oder mores, widmet. Sie geht hervor aus den höfischen Verhaltens- und Klugheitslehren der Renaissance und bedient sich nichtsystematischer literarischer Formen wie des Essays und des Aphorismus. Die Tradition hat erheblichen Einfluss auf die europäische Bildungslandschaft in Philosophie und Literatur ausgeübt. Bedeutende Autoren sind Baldessare Castiglione, Michel de Montaigne, Baltasar Graciàn oder François de la Rochefoucauld. Diese sollen in der begleitenden Vorlesung näher vorgestellt werden.

In Anlehnung an diese Tradition werden auch literarische Autoren insbesondere der Romania als Moralisten bezeichnet, die sich der Erkundung menschlicher Verhaltensweisen, Laster und Abgründe jenseits einer eindeutigen moralischen Bewertung und moralischer Didaxe widmen. Das Seminar wird sich zunächst mit frühneuzeitlichen Beispielen der philosophischen Moralistik, der Novellistik und der pikarischen Literatur befassen, um im Weiteren exemplarische Erzählungen der Moderne hinsichtlich ihrer auf das menschliche Verhalten bezogenen Darstellungsweisen und Perspektiven zu diskutieren. Behandelt werden soll ein breites Spektrum von Texten von Boccaccio bis Grimmelshausen, von Giovanni Verga und Guy de Maupassant bis Michel Houellebecq und Elena Ferrante.