Pier Paolo Pasolini - Literatur und Liminalität
1950 verlässt Pier Paolo Pasolini unter turbulenten Umständen das ländliche Friaul, die Heimat seiner Mutter, und zieht nach Rom. Das neue Umfeld wirkt unmittelbar betörend. Insbesondere die Begegnung mit den Jugendlichen aus den borgate, mit ihrer Körperlichkeit, ihrer Sprache, ihrer moralischen Unvoreingenommenheit, erweisen sich für Pasolini als überwältigend. »Roma sanguinante di assolute novità« – so der euphorische Ausruf in einem Brief von 1950.
Die Erfahrung der Hauptstadt gleicht einer liminalen- oder Schwellenerfahrung: Pasolini begegnet hier einem Anderen, einem »innomabile«, das sich über herkömmliche Sprache zunächst nicht vermitteln lässt. Rom bildet in Pasolinis Karriere somit den Ausgangspunkt einer literarischen Suche, die ihn immer weiter weg von einer sentimentalen, introspektivischen Prosa, hin zu experimentelleren Formen des Erzählens, führen. In Ragazzi di Vita (1955) findet diese Suche zu ihrem ersten, vielleicht unübertroffenen Höhepunkt. Der in acht inhaltlich lose Episoden strukturierte Roman entspricht – entfernt – einer pikaresken Erzähltradition, über die Pasolini die Kapriolen und Gaunereien seiner Protagonisten, den borgatari Ricetto, Cacciotta, Piattoletta, literarisch stilisiert. Kernpunkt seiner damals sehr kontroversen Operation bestand darin, die Erzählungen ihren Protagonisten idealiter anzugleichen. Anders formuliert: In Ragazzi di Vita übersetzt Pasolini die persönliche Erfahrung eines soziologisch Anderen in eine Kunstsprache, welcher Versatzstücke der stark idiomatisierten Vulgärsprache und die »amoralische« Lebenseinstellung seiner Hauptfiguren zu Grunde liegen.
Ausgehend von Ragazzi di Vita sollen im Seminar Besonderheiten und Probleme der Narrativik Pasolinis, nicht zuletzt vor dem allgemeinen Hintergrund der italienischen Literatur der 50er Jahre, untersucht werden. Auch die ethische Dimension seiner Erzähltechnik (Ablehnung psychologischer Vertiefung, freie indirekte Rede, Stil- und Sprachmischung) soll, unter Mitberücksichtigung der teils empörten zeitgenössischen Reaktionen, diskutiert werden. Schließlich werden wir die experimentellen Verfahren des Romans auszugsweise vergleichen mit jenen späterer Erzählwerke (Alì dagli occhi azzurri, Teorema), um somit die Entwicklung Pasolinis als Prosautor in den 60er Jahren, im Kontext von Kino und Wirtschaftsboom, nachzuvollziehen. Der Begriff des Liminalen soll dabei nicht mehr nur in Bezug auf die Erfahrung einer Außenwelt, sondern auch als eine literaturspezifische Erfahrung erfasst werden – als ein für Pasolini typisches Sich-Bewegen in Zwischen-, Übergangs-, Grenzräumen literarischer und künstlerischer Codes (zwischen Prosa und Dichtung; zwischen Prosa und Essayistik, zwischen Film und Literatur, etc.)
- Trainer/in: Fabien Vitali