Die Vorlesung will die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Psychiatrie im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts am Beispiel der Theorie der „Degeneration“ untersuchen. Im Zentrum steht die narrative und rhetorische Verfasstheit der Degeneration als ein antimodernistisches Erzählmodell, das in Russland in Auseinandersetzung mit westeuropäischen Poetologien und Epistemologien entsteht. In der Vorlesung sollen die mannigfaltigen Transformationen von russischen Verfallserzählungen zwischen naturalistischer Poetik und psychiatrischen Fallgeschichten, Kriminalliteratur und Kriminalanthropologie, literarischem Darwinismus und Eugenik nachgezeichnet werden. In dieser Perspektive offenbaren sich ungeahnte Verbindungen zwischen russischen Psychiatern und klassischen sowie vergessenen Autoren der russischen Literatur, von Fedor Dostevskij und Dmitrij Mamin-Sibirjak über Lev Tolstoj und Vladimir Giljarovskij bis Anton Čechov und Aleksej Svirskij.
Literatur: Riccardo Nicolosi: Degeneration erzählen. Literatur und Psychiatrie im Russland der 1880er und 1890er Jahre. Paderborn: Wilhelm Fink 2018.
- Trainer/in: Riccardo Nicolosi